Der Balkon

Bewegungslos stand er auf dem Balkon und rauchte. Starrte in den Himmel. Die Nacht war kalt und sternenklar.

Langsam wurde ihm schwindelig, von der klaren Luft, von der Zigarette, von seinen Gedanken.

Nein, zum Springen war es nicht hoch genug. Vielleicht vier Meter. Obwohl, wenn er mit dem Kopf aufkam?!

Solche Gedanken schwirrten andauernd durch seinen Kopf. Aber es fehlte ihm der Mut zum letzten Schritt.

Nicht wie damals. Da hatte er keinen Mut gebraucht. Damals hatte er nicht darüber nachgedacht. Damals ging das so. Ohne Nachzudenken. Im Vorbeigehen. Musik, Tabletten, aufs Bett legen, schlafen.

Er war seitdem in Behandlung. Aber mittlerweile wußte er nicht mehr warum. Es brachte ihn nicht weiter. Außer, daß ihm der Mut zu einem weiteren Versuch fehlte.

Und darum ließ er wieder diese Erinnerung zu. Hörte wieder diese schlimme Musik. Las wieder die alten Sachen. Um sich in die Stimmung zu versetzen, so im Vorbeigehen sein Leben zu beenden. Aber es klappte noch nicht. Noch nicht.

Er hatte sich damit abgefunden, in seiner kleinen Welt zu leben. Und nur hin und wieder gelang es ihm, auszubrechen. Um dann sofort, oder manchmal auch ein wenig später, wie durch ein Gummiband zurückgerissen zu werden. Und jedes Mal war der Ruck zurück schlimmer.

In diesen Gedanken versunken drückte er die Zigarette aus. Ging automatisch zurück in seine Wohnung und setzte sich auf das Sofa. Der Fernseher lief. Ohne Interesse sah er hin.

Schaute auf die Uhr. Schaltete den Fernseher aus. Begab sich ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen. Sah die zweite, unbenutzte Zahnbürste. Der Gedankenkreis begann von vorn.

Im Bett las er noch einige Seiten in einem Buch von „Terry Pratchett“. Einer seiner Lieblingsautoren. Legte das Buch weg, schaltete das Licht aus und schlief ein.

Der nächste Tag begann wie der letzte. Und der davor. Und der davor. Und der davor.

Doch diesmal eine kleine Variation. Er sah auf den Einkaufszettel. Er mußte Besorgungen machen.

Draußen schwang er sich auf sein neues Fahrrad. Seinen Wagen hatte er abgeschafft. Was brauchte man ein Auto in der Stadt. Obwohl, er war nicht gern in der Stadt. Zuviel Orte der Erinnerungen. Und wie vorprogrammiert fuhr er all die Orte an, an die die Erinnerungen so tief und auch so schmerzlich waren.

Hier waren sie das erste Mal händchenhaltend und rumalbernd mit Bekannten gegangen. Und weiter am Friedhof entlang. Hier waren sie alle paar Meter stehen geblieben, um sich lange zu küssen. Und hier. Hier hatte SIE ihn in die Einfahrt gezogen und leidenschaftlich geküßt.

Ach ja, und in diesem Laden hatte sie zusammen eine Tönung für ihn ausgesucht. Gegen seine ergrauenden Haare. Und an dieser Tankstelle hatte er seine erste Schachtel Zigaretten gekauft. Nach 15 Jahren. Als SIE ihm das erste Mal sagte, daß SIE sich nicht entscheiden könne. Noch Zeit brauche. Und hier… und hier… und da…

Und dann… Dann sah er diese Frau. Sie kam ihm joggend den kleinen Pfad entgegen. Schon von weitem blieb ihm fast das Herz stehen. Und als sie näher kam, traf es ihn wie ein eiskalter, dicker Wasserstrahl. Aber SIE war es nicht. Die Frau hätte jedoch IHRE Schwester sein können.

Eine Hecke bremste seine Fahrt. Völlig verdattert starrte er ihr nach. Es war keine Liebe auf den ersten Blick. Daran glaubte er sowieso nicht. Aber er war völlig durcheinander über diese Ähnlichkeit. Langsam entfernte sie sich. Sah sich nicht um. Obwohl sie mitbekommen haben mußte, daß er in die Hecke gefahren war.

Konnte er diese Frau irgendwie kennenlernen? Wollte er das?

Nachdem er seine Termine abgefahren und seine Besorgungen erledigt hatte, schlug er den Heimweg ein. Die ganze Zeit über ging ihm diese Frau nicht mehr aus dem Kopf. Das änderte sich auch den restlichen Tag nicht. Und er fragte sich verwirrt, ob das richtig war.

Der nächste Morgen. Er war früher wach als sonst. Er hatte sich vorgenommen wieder den kleinen Pfad zu fahren, um sie vielleicht zu treffen. Nervös sah er auf die Uhr. Ach was, noch genügend Zeit. Mit einer Tasse Kaffee setzte er sich vor seinen PC. Wußte nicht, was er sonst tun sollte. Verließ dann seine Wohnung zur passenden Zeit. Und die Erinnerungen setzten wieder ein.

Am Anfang des besagten Weges hielt er an. Wartete. Wartete vergebens. Die Frau kam nicht.

Auch am nächsten Tag traf er sie nicht. Und auch nicht am übernächsten.

Abends stand er wieder auf seinem Balkon und rauchte. Haderte mit sich und der Welt. War aber so klar, daß er sich fragte, ob er sich nicht gefiel in seinem Selbstmitleid.

Am Freitagvormittag hatte er einen Termin in der Stadtverwaltung. Auf dem Flur keine Menschenseele. Er klopfte an die Bürotür, trat ein. Einen kleinen Augenblick noch, wurde ihm beschieden. Er setzte sich auf einen der unbequemen Stühle. Sah in den Stapel mit verschiedenen Prospekten. War in Gedanken versunken. Am anderen Ende des Ganges hörte er eine Tür zuschlagen und sah hoch. Da stand sie. Sah auf die Uhr und kam langsam in seine Richtung. Mit klopfendem Herzen schielte er über den Rand des Prospektes, das er gerade in den Händen hielt. Sah auf, als sie seine Höhe erreicht hatte. Ihre Blicke trafen sich. „So sieht man sich wieder“, sagte sie, an ihn gewandt, „bremsen sie immer so?“ Er wußte nicht, was er sagen sollte, und schüttelte nur den Kopf. „Wenigstens nichts passiert?“. „Nein“, sagte er, „alles in Ordnung“. Sie zögerte kurz. Schlenderte dann jedoch weiter und verschwand hinter einer der nächsten Türen.

Der Duft nach „Chanel No. 5“ lag in der Luft. Das war IHR Parfüm. Er kniff sich in den Arm, um sich zu beweisen, daß er nicht träumte.

Jemand stieß in an. „Kommen sie herein“. Er hatte tatsächlich vergessen, warum er hergekommen war. Nachdem die Angelegenheit erledigt war, sah er sich auf dem Flur um. An allen Türen befanden sich die Namen der Sachbearbeiter. Er ging zu der Tür, hinter der sie verschwunden war. Ein Frauenname. Er wendete sich ab und begab sich zum Ende des Flures, zu der Tür, aus der sie gekommen war. Ein Männername. Also war vorn ihr Zimmer. Ziemlich durcheinander verließ er das Amt. Jetzt wußte er wenigstens wie sie hieß.

Den Nachmittag verbrachte er dumpfbrütend auf dem Sofa. Der Fernseher lief. Er fühlte sich schlecht. Hatte das Gefühl SIE mit seinen Gedanken an die andere zu betrügen. Konnte diese andere Frau aber nicht vergessen. Überlegte hin und her, wie er einen Kontakt herstellen konnte. Und fühlte sich dadurch noch schlechter.

Der Zufall kam ihm zu Hilfe. Am Samstagabend spielte eine Band im einzigen Lokal in der Stadt, in dem Liveauftritte möglich waren. Und weil er mal wieder auf andere Gedanken kommen wollte, und dies auch seine Musikrichtung war, zahlte er zähneknirschend den seiner Meinung nach zu teueren Eintritt.

Die Musik war gut. Doch auf andere Gedanken kam er nicht. Wie auch, bei „Blues“.

Von hinten tippte ihm jemand auf die Schulter. Er sah sich um. „Mann, lange nicht mehr gesehen“. Das stimmte. Sicher ein paar Jahre. Sie kamen ins Gespräch. Soweit es die Musik zuließ. „Was machst Du jetzt so“? „Bin immer noch bei der Stadt“, antwortete sein Kumpel aus früheren, besseren Zeiten. Elektrisiert zuckte er zusammen. „Hier?“ Diesen Kontakt mußte er intensivieren. Sie verabredeten sich für Sonntag zum Fußball. Zum Zusehen, nicht zum spielen. Es wurde eine lange Nacht.

Schlaftrunken stand er am Sonntagmorgen auf. Sah auf die Uhr. Keine Zeit zum Frühstück. Duschen, anziehen, rauchen, ab zum Sportplatz. Gott sein dank kein Kater. War verwunderlich nach den ganzen Altbieren.

Es war kein gutes Spiel, und so blieb genug Zeit zum Reden. „Mal was anderes“, begann er.

„Ich hab da bei Euch im Amt eine nette Frau gesehen“. Er nannte ihren Namen. „Ach ja, die“, bekam er zu hören, „die ist ein Sonderfall. Keine Familie, kein Freund, kennt nur ihre Arbeit“.

„Na dann ist das ja genau das Richtige für mich“, scherzte er (scherzte er wirklich?). Und wieder beschlich in dieses komische Gefühl, SIE zu betrügen, weil er an die Andere dachte. Sein Freund aus guten Tagen sah ihn an. „Echt jetzt?“

Das Spiel war zu ende. Noch eine gemeinsame Zigarette bis zum Ausgang. „Dann mach’s mal gut“, sagte er. „Jau, man sieht sich. Bis die Tage“. Der Andere drehte sich noch mal um.

„Ich ruf Dich an, wegen der Durchwahl, ok?“ „Sicher dat“. Er schwang sich auf sein Fahrrad und freute sich auf sein Sofa.

Wie versprochen bekam er am nächsten Tag die Durchwahl. Dennoch dauerte es weitere zwei Tage, bis er sich entschloß auch tatsächlich einen Anruf zu wagen.

Und es klappte. Sie verabredeten sich zu Freitagnachmittag auf einen Kaffee. Und wieder pochte sein Gewissen.

Sie war ganz anders als SIE. Still, zurückhaltend. Nicht sehr gesprächig. Nicht wie SIE, offen, wortgewandt und leidenschaftlich (sein Gewissen). Dennoch verging die Zeit wie im Fluge.

Und weil sie bis zu einem Punkt den gleichen Weg hatten, begleitete er sie bis zur Haustür. Sie sahen sich an. Verabschiedeten sich mit einem Händedruck. Er sah ihr nach, wie sie hinter der Tür verschwand.

Was war nur los mit ihm? War er dabei sich neu zu verlieben. Die Ähnlichkeit im Äußeren zu IHR war wirklich verblüffend. Aber sie war nicht SIE.

Am Abend stand er wieder mit einer Zigarette auf dem Balkon, starrte in den Himmel, in dem sich heute keine Sterne zeigten, und hatte ein schlechtes Gewissen.

Sie hatten kein neues Treffen vereinbart. Einfach nicht daran gedacht. Aber er hatte ja die Durchwahl im Amt.

Wieder ließ er einige Tage verstreichen, wollte nicht aufdringlich erscheinen. Dann wählte er die Nummer und hatte sie gleich am Apparat. Machten erneut einen Termin für den Freitagnachmittag aus. Wie leicht das Alles ging. Sie trafen sich vor dem Café. Gingen aber nicht hinein, sondern bummelten durch die Stadt (auch an das Café und an dem Bummeln hingen Erinnerungen). Langsam näherten sie sich dem Bistro wo er sich zum allerersten Mal mit IHR getroffen hatte. Vielmehr waren sie damals auch gebummelt, und dann dort gelandet. War das Zufall?

Sie setzten sich an einen freien Tisch und bestellten Cappuccino. Das Gespräch kam wieder nicht richtig in Gang. Diesmal lag es aber auch an ihm. Er hing den Gedanken nach. Die Zeit verstrich. Wieder brachte er sie bis an die Haustür. Wieder sahen sie sich an. Und diesmal ließ sie es geschehen, daß er sie kurz in die Arme nahm, und auf die Wange küßte. Als sie im Haus verschwunden war, kam er sich schäbig vor.

Rauchend stand er auf dem Balkon. Es nieselte inzwischen leicht. Fröstelnd zog er die leichte Jacke enger um seine Schultern. Gedankenverloren schnippte er die Zigarette fort. Stellt sich an das Geländer und kippte nach vorn. Er schlug mit dem Kopf auf das Pflaster auf. Diesmal würde er nicht im Krankenhaus aufwachen.